Unsere Persönlichkeit macht uns als Menschen aus. Wir wissen von unseren Stärken, Schwächen, Macken und Eigenarten und können unseren Charakter mit der nötigen Portion Selbstreflexion ganz gut beschreiben. Auch die Persönlichkeit von unseren Mitmenschen nehmen wir wahr. Sie spiegelt sich in ihren Handlungen, ihren Worten und ihrem Lebensstil wider. Manchmal kann es aber auch zu Persönlichkeitsstörungen kommen.
Die Persönlichkeit ist unsere Art und Weise, der Welt zu begegnen und in ihr unser Leben zu gestalten. Sie ist ganz individuell und entwickelt sich im Kindesalter. Aber was ist, wenn Handlungen, Worte und Lebensstil deutlich von der Norm abweichen? Was ist denn überhaupt die Norm? Es gibt natürlich viele Facetten von Persönlichkeit und es ist immer im Einzelfall zu betrachten, ob eine Störung vorliegt. Es muss beurteilt werden, ob die Lebensführung und das soziale Miteinander durch die extreme Persönlichkeitsausprägung beeinträchtigt ist und ob die betroffene Person oder ihr Umfeld darunter leiden. Ist dies der Fall, spricht man von einer Persönlichkeitsstörung, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise manifestieren kann.
Der Zeitpunkt für diesen Artikel ist ein besonderer, denn in der Beschreibung von Persönlichkeitsstörungen hat sich im Jahr 2019 einiges getan. Das hat folgenden Grund: In diesem Jahr ist eine neue Version des Ärzte-Handbuch zur Beschreibung von Krankheiten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erschienen und wird mit ICD-11 abgekürzt. ICD steht für „International Classification of Diseases“, also für die internationale Klassifikation von Krankheiten. Ärzte sind verpflichtet, ihre Diagnosestellung an dieses Manual anzupassen und die dort verwendeten Kürzel zu nutzen. Hierzu später mehr.
Uns ist allen bekannt, dass es Menschen gibt, die etwas anders sind. Menschen, die sich nicht perfekt an Normen und Konventionen anpassen und damit ein wenig herausstechen. Wir kennen Personen, die sehr still sind, zurückgezogen leben und keine Gesellschaft suchen. Vielleicht haben wir auch Bekannte, die sich in ihrer Partnerschaft völlig aufopfern und ohne ihren Partner kaum lebensfähig sind. Haben alle diese Menschen eine Persönlichkeitsstörung?
Die Antwort lautet ganz klar „Nein“, denn Persönlichkeiten sind sehr unterschiedlich und weisen verschiedene Stile auf. Man kann dann von einer Persönlichkeitsakzentuierung sprechen, d.h. eine Neigung in eine bestimmte Richtung. Inzwischen wird dieser fließende Übergang zwischen außergewöhnlichen Charakterzügen und Persönlichkeitsstörungen stärker beachtet, sodass Störungen der Persönlichkeit nicht mehr streng nach Kategorien eingeteilt, sondern je nach Ausmaß der Beeinträchtigung in der Lebensführung betrachtet werden.
Bei Persönlichkeitsstörungen kann es sein, dass eine genetische Vorbelastung vorliegt. Auch Schwangerschaftskomplikationen, Vergiftungen im Mutterleib und die generelle psychische Konstitution können eine Rolle spielen. Diese Faktoren führen zu einer erhöhten Anfälligkeit für eine Störung der Persönlichkeit (Vulnerabilität). Kommt es dann noch zu ungünstigen psychosozialen Faktoren, z.B. belastenden Eltern-Kind-Beziehungen oder traumatischen Ereignisse, kann sich eine Persönlichkeitsstörung ausbilden. Viele Fachleute verstehen die Störung als eine Art Schutz vor den Anforderungen der Umwelt an die eigenen Kompetenzen, die durch die genetische Vorbelastung verringert sind (Fiedler, 2009).
Fachärzte für Psychiatrie müssen bei der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen in Zukunft dreistufig vorgehen. Dies soll verhindern, dass Personen einfach in Schubladen gesteckt werden, ohne genau zu schauen, welche Dimension die (vermutete) Persönlichkeitsstörung einnimmt.
Die drei Stufen der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen im ICD-11 laufen wie folgt ab:
Stufe 1: Überprüfung der allgemeinen Kriterien für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung
Es liegt eine Störung der Persönlichkeit vor, wenn das Persönlichkeits- und Verhaltensmuster überdauernd vom gesellschaftlich erwarteten Verhalten abweicht. Die Persönlichkeit und das Verhalten sind sehr starr und unflexibel und die Auffälligkeiten bestehen schon seit dem Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Die Abweichungen der Persönlichkeit zeigen sich unter anderem in den Gedanken, den Gefühlen, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Impulskontrolle. Beispiele sind:
• bizarre Arten der Wahrnehmung von sich selbst und anderen
• Hohe oder niedrige Intensität an Emotionen oder große emotionale Instabilität
• impulsives, unkontrolliertes Verhalten
• sehr viele oder sehr wenige soziale Kontakte
Wichtig: Die Symptome müssen zu Leiden führen und das soziale und berufliche Leben beeinträchtigen, damit eine Diagnose gestellt werden darf. Andere psychische Erkrankungen oder der Einfluss von Medikamenten müssen ausgeschlossen werden.
Stufe 2: Einschätzung des Schweregrades
Die betroffenen Personen werden jetzt nicht mehr nur in die Kiste „Persönlichkeitsstörung“ gesteckt, sondern es wird genauer betrachtet, wie schwer sich die Störung in ihrem Leben auswirkt. Dies hat den Vorteil, dass viel individueller auf die Patienten eingegangen wird und eine nachfolgende Therapie besser angepasst werden kann. In folgenden Bereichen werden Messinstrumente eingesetzt, um den Schweregrad der Störung festzustellen:
• Das Selbstbild und der Selbstwert der Person
• Die Qualität menschlicher Beziehungen
• Verhalten, Emotionen, Gedanken
• Auswirkungen der Persönlichkeit im privaten und beruflichen Kontext
• Der Schaden, der sich und anderen zugefügt wird
Stufe 3: Analyse der vorherrschenden Persönlichkeitsmerkmale
Im dritten Schritt wird dann genauer betrachtet, welche Form der Persönlichkeitsstörung vorliegt. Früher hatten die Persönlichkeitsstörungen spezielle Bezeichnungen, von denen immer mehr Abstand genommen wird (Ausnahme: Borderline-Persönlichkeitsstörung). In diesem Artikel werden sie aber trotzdem noch aufgeführt, da sie (zum Teil) sehr geläufig sind und in der Kommunikation von Ärzten und Therapeuten genutzt werden. Welche Formen der Persönlichkeitsstörung vorliegen können, erfahren Sie im nächsten Abschnitt.
Im ICD-11 gibt es sechs verschiedene Persönlichkeitstypen, die bei hoher Ausprägung pathologisch sein können (Berberich & Zaudig, 2015). In der Übersicht finden Sie die Persönlichkeitstypen mit einer kurzen Beschreibung und dazu die früher gebräuchlichen Namen für die Persönlichkeitsstörung.
Lange Zeit hielt sich in der Wissenschaft und in der Praxis der Mythos, dass Persönlichkeitsstörungen schwer zu behandeln sind, da die Persönlichkeit als stabil angenommen wurde. Eine Studie von Skodol et al. (2005) zeigt, dass im Verlauf der Zeit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Betroffenen noch alle diagnostischen Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllen. Persönlichkeitsstörungen können sich also durch die richtige Behandlung verbessern.
Kommt es durch die Persönlichkeitsstörung zu Leiden oder Problemen im sozialen und beruflichen Bereich, dann ist eine Psychotherapie indiziert. Mit einer Persönlichkeitsstörung können auch andere psychiatrische Krankheiten einhergehen, wie Depressionen oder Suchterkrankungen. Manchmal ist es so, dass Betroffene sich erst wegen der Zweiterkrankung in Behandlung begeben und erst dann eine Persönlichkeitsstörung festgestellt wird.
Die Psychotherapie ist die Behandlung der Wahl bei Persönlichkeitsstörungen. Nach Bohus et al. (1999) sollte eine solche Psychotherapie folgende Aspekte enthalten:
• Verringerungen von Gefährdungen der eigenen Person oder Mitmenschen (vor allem relevant beim Borderline-Typ oder Dissozialität)
• Stabilisierung des Patienten (z.B. bei negativer Affektivität)
• verbesserte Selbststeuerung und Verhaltenskontrolle (z.B. bei Dissozialität, Hemmungsschwäche und negativer Affektivität)
• Normalisierung des emotionalen Erlebens (z.B. bei negativer Affektivität, Bindungsschwäche und Zwanghaftigkeit)
• Hilfe bei der Lebensführung (z.B. bei Hemmungssschwäche)
Die Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten ist in der Therapie von enormer Bedeutung. In der Zusammenarbeit kann der Patient neue Beziehungserfahrungen sammeln und lernen, die Auswirkungen seiner Persönlichkeit auf das Zusammenleben mit anderen Menschen besser ein-schätzen zu können.
Wie bereits erwähnt, wird in Studien immer deutlicher, dass Persönlichkeitsstörungen veränderbar sind und sich eine passende Therapie lohnt. Die Resultate machen Mut, sich Hilfe zu suchen! Außerdem gibt es Therapieprogramme, die auf besondere Unterformen von Persönlichkeitsstörungen zugeschnitten sind, sodass spezielle Unterformen gezielt behandelt werden können.
Es ist außerdem zu begrüßen, dass die strenge Betrachtungsweise von festgelegten Persönlichkeitsstörungen im ICD-11 gelockert wurde. Überlappungen der Symptome und die Beachtung des Schweregrades können jetzt wesentlich besser dargestellt und in der Therapie berücksichtigt werden.
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