Wie chronische Schmerzen die Persönlichkeit verändern können

Zwischen acht und sechzehn Millionen Deutsche leiden unter chronischen Schmerzen. Die Bandbreite zeigt, wie hoch die Dunkelziffer an Betroffenen sein muss, die sich nicht ärztlich vorstellt. Und selbst wenn das geschieht, hat jeder fünfte Schmerzpatient nicht das Gefühl angemessen behandelt zu werden. Die daraus resultierenden Folgen sind verheerend: Rückzug aus dem Sozialleben, Arbeitsunfähigkeit und schlussendlich nicht selten eine Veränderung der gesamten Persönlichkeit.

Akute Schmerzen vs. chronisches Schmerzsyndrom

Zunächst ist es wichtig akute von chronischen Schmerzen abzugrenzen. Von akuten Schmerzen wird gesprochen, wenn diese eine Dauer von drei Monaten nicht überschreiten. Dieser Zeitraum wird im Schnitt vom Körper benötigt, um Verletzungen wie Knochenbrüche oder Bänderrisse zu heilen. Der akute Schmerz besitzt damit eine bedeutsame Schutzfunktion und soll zu einer Schonung und damit bestmöglichen Heilung führen. Bei chronischen Schmerzen ist der Auslöser meistens nicht mehr aktiv und sie sind das Resultat eines überempfindlichen Nervensystems oder chronischer Entzündungen. Damit besitzen sie keine nützliche Funktion mehr und verursachen eher Leiden und Komplikationen, wie: Schlafprobleme, schlechte Beweglichkeit, Arbeitsunfähigkeit oder psychische Belastungen.

Ursachen chronischer Schmerzen

Die Auslöser für ein chronisches Schmerzsyndrom lassen sich in drei Kategorien unterteilen:

Physische Erkrankungen

Hier treten die Schmerzen im Zuge von Krankheiten wie Rheuma, Arthrose, Fibromyalgie oder Osteoporose auf. Sie können jedoch auch Folge einer Nervenschädigung sein oder als Phantom-Schmerzen bei einer Amputation auftreten.

Psychische Erkrankungen

Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Angststörungen sind die Krankheitsbilder, bei denen chronische Schmerzen am häufigsten als Begleitsymptom berichtet werden.

Zusammenspiel aus physischen und psychischen Erkrankungen

Es ist gar nicht selten, dass zunächst eine physische Erkrankung (beispielsweise Kopfschmerzen durch eine Blockierung von Halswirbeln) auftritt und sich dann durch eine wachsende Belastung und schlechte Bewältigung verschlimmert (chronische Migräne). Ebenfalls kann eine psychische Erkrankung (wie eine Angststörung) eine dauerhafte Fehlhaltung hervorrufen, die dann langfristig zu einer chronischen Schmerzerkrankung (Rückenschmerzen) führt.

Die Diagnose F62.80: Andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom

Wie bereits klar geworden sein sollte, sind die Ursachen eines chronischen Schmerzsyndroms sehr vielfältig und verursachen Leiden mit weitreichenden Auswirkungen auf das ganze Leben von Betroffenen. Wenn ein längeres Leiden an chronischen Schmerzen besteht, werden diese zum permanenten Begleiter und verändern nicht nur den Alltag, sondern tatsächlich in einigen Fällen die gesamte Persönlichkeit. Das internationale Diagnosemanual für Krankheiten (ICD) gibt genau diesem Phänomen einen offiziellen Code und macht die Erkrankung damit zur Diagnose: F62.80. Das Manual betont dabei nochmal, dass der Schmerz seine Warnfunktion verloren haben muss und sich neben den körperlichen Folgeerscheinungen therapiebedürftige psychische sowie soziale Beeinträchtigungen ergeben haben, die sich allesamt bedingen oder verstärken.

Inwiefern verändert sich die Persönlichkeit?

Eine Persönlichkeitsänderung liegt grundsätzlich vor, wenn es Hinweise auf gravierende und andauernde Veränderungen in der Wahrnehmung, im Denken sowie Verhalten in Bezug auf die Umwelt und die eigene Person gibt. Diese dürfen jedoch nicht durch eine Schädigung oder Krankheit des Gehirns hervorgerufen werden. Die Änderungen stehen in Verbindung mit einem unflexiblen und fehlangepassten Verhalten, was jedoch nicht aus einer bereits bestehenden psychischen Störung resultiert.

Im Rahmen von chronischen Schmerzen tritt eine Persönlichkeitsänderung nach oder wegen der starken Belastung und Einschränkungen durch die Schmerzen auf. Sie ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale:

  • Unangemessenes Krankheitsverhalten wie Medikamentenmissbrauch, Schonverhalten oder Durchhaltestrategien
  • Katastrophisierendes Denken
  • Zunehmende Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen
  • Erhöhte Aufmerksamkeit für schmerzbezogene Reize
  • Zwischenmenschliche Konflikte
  • Rückzug von Alltagsaktivitäten

Maßnahmen, wenn kein Schmerzmittel wirkt!

Die weitreichenden Folgen zeigen wie komplex das chronische Schmerzsyndrom ist und unterstreichen die Wichtigkeit einer Behandlung, damit es im besten Fall gar nicht erst zu Persönlichkeitsveränderungen kommt. Da sich chronische Schmerzen im Gegensatz zu den akuten Schmerzen nicht mit herkömmlichen Schmerzmitteln behandeln lassen, ist es für Betroffene wichtig, Strategien zu erlernen, die Linderung verschaffen und ihnen eine Bewältigung des Alltags sowie mehr Lebensqualität ermöglichen. Folgende Maßnahmen können, besonders in Kombination, dabei helfen:

Psychotherapie
An der Stelle kann sowohl die kognitive Verhaltenstherapie, als auch eine tiefenpsychologische Behandlung oder Hypnotherapie zum Tragen kommen. Alle Verfahren versuchen psychosoziale sowie körperliche Stressoren zu identifizieren und darauf abgestimmt Techniken zur Schmerzbewältigung zu vermitteln. In vielen Fällen sind Patienten zu viel auf das Durchhalten wollen und Funktionieren fokussiert und müssen erstmal lernen, mit ihrem Körper statt gegen ihn zu arbeiten.

Bewegung
Gerade die Aktivität ist das, was Schmerzpatienten am meisten meiden, da sie eine weitere Verschlechterung ihres Zustandes befürchten. Das mag in manchen Fällen tatsächlich auch so sein, jedoch kann es für viele eine große Chance sein, es erst einmal zu versuchen. Das Pensum sollte ganz individuell auf die Ursache der Schmerzen abgestimmt sein und eine moderate Intensität nicht übersteigen.

Entspannungsverfahren
Yoga, Meditation, progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder Biofeedback sind Verfahren, die nachweislich sowohl den Körper, als auch den Geist entspannen und helfen, den Fokus weg von den Schmerzen zu lenken. Gerade wenn es Betroffenen schwer fällt zu spüren, was der eigene Körper benötigt oder ein permanentes Gedankenkreisen um den Schmerz besteht, können Entspannungsverfahren besonders effektiv sein.

Für Schmerzpatienten, die bereits eine Änderung in ihrer Persönlichkeit erlebt haben, scheint eine Besserung ihrer Symptomatik oft unmöglich und sie befinden sich in einem Teufelskreis von chronischen Schmerzen, dem daraus resultierenden dauerhaften Stress sowie Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung – was wiederum die Schmerzen verstärkt. Gerade aus diesem Grund ist es zu Beginn einer Behandlung wichtig, die chronische Erkrankung und die damit verbundenen Einschränkungen erstmal zu akzeptieren um die verbleibenden Energie für die Dinge aufwenden zu können, die noch möglich sind. Professionelle Unterstützung und eine Kombination der aufgeführten Maßnahmen sorgen im nächsten Schritt für eine Stärkung der bestehenden Ressourcen und erneute Steigerung der Lebensqualität.

Quellenangaben
  • Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: https://www.schmerzgesellschaft.de/fileadmin/pdf/Aktionstag-Zahlen-Fakten.pdf, Abruf am 11.11.2022.
  • Köhler, Thomas: Psychische Störungen. Stuttgart, 2017.
  • von Wachter, Martin: Chronische Schmerzen: Selbsthilfe und Therapiebegleitung, Orientierung für Angehörige und konkrete Tipps und Fallbeispiele. Heidelberg, 2014.
  • von Wachter, Martin & Hendrischke, Askan: Psychoedukation bei chronischen Schmerzen. Heidelberg, 2021.

Kategorien: Chronische Schmerzen

Christiane von Falkenhayn
Leitende Psychologin, Approbierte psychologische Psychotherapeutin Christiane von Falkenhayn
Dipl.-Psych. Christiane von Falkenhayn ist eine versierte leitende Psychologin und approbierte psychologische Psychotherapeutin, die sich durch ein tiefgehendes Verständnis verschiedener psychotherapeutischer Ansätze auszeichnet. Ihre Expertise umfasst spezialisierte Techniken in Verhaltenstherapie, Systemischer Therapie, Dialektisch Behavioraler Therapie und Traumatherapie. Durch ihr Studium der Psychologie an der Universität Trier und kontinuierliche Weiterbildungen erlangte sie umfassende Kenntnisse, die sie in ihrer Rolle als Leitende Psychologin in der LIMES Schlosskliniken AG täglich anwendet. Besonders geschätzt ist Christiane von Falkenhayn für ihre Empathie, mit der sie eine Atmosphäre des Vertrauens und der persönlichen Entwicklung schafft.

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