So ausgeklügelt unser Verstand auch ist, ab und zu stellt er seltsame Sachen mit uns an. Fast jeder kennt es, wenn sich ein Gedanke so richtig festbeißt und immer wiederkommt, egal wie sehr man sich ablenkt. Der sprichwörtliche rosa Elefant zum Beispiel. Der Verstand kann uns auch ziemlich unsinnige Handlungsanweisungen geben und wir führen sie aus, bevor wir merken, dass sie uns eigentlich nichts nützen. So überprüfen wir die verschlossene Haustür manchmal viermal, obwohl wir mit Sicherheit wissen, dass sie eigenhändig abgeschlossen wurde. Das passiert schon mal von Zeit zu Zeit. Bei einer Zwangsstörung nehmen die beschriebenen Phänomene aber ein ganz anderes Ausmaß an.
Schauen wir uns Zwangsstörungen mal genauer an: Es ist zunächst wichtig, den Unterschied zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zu erkennen. Diese beiden Formen der Zwangsstörungen können allein oder aber in schweren Fällen kombiniert auftreten.
Aber egal ob Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen bei der betroffenen Person dominieren, sie fühlt immer einen inneren, subjektiven Drang, diese bestimmten Dinge zu tun oder zu denken. Auch wenn sie versucht, den Zwang im Kopf zu unterdrücken, ploppt er immer wieder in das Bewusstsein. Eigentlich weiß die Person, dass die Gedanken oder die Handlung sinnlos sind, sie kann sich aber trotzdem mit rationalen Argumenten nicht von ihnen lösen. Der Alltag kann im schlimmsten Fall massiv eingeschränkt sein, weil kaum noch Raum und Zeit für das normale Leben bleibt. Zwangsstörungen sind auch gar nicht so selten, wie viele denken: knapp über 2% der deutschen Bevölkerung leiden unter einer Zwangserkrankung.
Wichtig: Zwangshandlungen sollten von Ritualen abgegrenzt werden. Rituale, z.B. bei emotionalen Ereignissen wie Hochzeiten oder Beerdigungen, geben uns Halt und Sicherheit. Weitere verbreitete Rituale sind Begrüßungen, Ehrungen, Tischsitten und so weiter. Diese Rituale werden aber meistens im ähnlichen Ausmaß von ganz vielen Menschen des gleichen Kulturkreises durchgeführt.
Zwangshandlungen und Zwangsgedanken können isoliert, aber auch gekoppelt einhergehen. Zwangshandlungen geht aber in den meisten Fällen ein beunruhigender Gedanke vorher. Interessanterweise zeigen Betroffene von Zwangsstörungen ähnliche Muster in ihren Zwangssymptomen. Zwar sind die konkreten Inhalte individuell, aber die grundlegende Thematik wiederholt sich oft:
Häufige Zwangsgedanken
Häufige Zwangshandlungen
Man könnte manche der Zwänge auch für versteckte Ängste halten. Meistens ist aber die zugrundeliegende Emotion bei einer Zwangsstörung nicht die Angst, sondern eher Unruhe, Anspannung oder Ekel. Früher wurden Angst- und Zwangsstörungen sogar zusammengefasst, heute unterscheidet man aber zwischen ihnen.
Eine junge Frau (Mutter von zwei kleinen Kindern) ist in Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Seit zwei Jahren leidet sie unter einer Zwangsstörung. Zuerst traten Zwangshandlungen auf: So hatte die Frau den inneren Drang, sich bevor sie das Haus verlässt, exakt zehnmal umzuziehen. Sie konnte diesen Zwang erst ganz gut in den Alltag integrieren, so stand sie z.B. extra früher auf, um dennoch alle ihre Aufgaben am Morgen erledigen zu können. Nach und nach kamen jedoch Zwangsgedanken hinzu. Sie hatte immer wieder den Gedanken, ihre kleine Tochter verletzen zu können.
Zuletzt hat sie in Gegenwart ihrer Tochter keine spitzen oder schweren Gegenstände (z.B. Messer oder Flaschen) in die Hand genommen, da ihre Zwangsgedanken sie so unter Druck setzten. Kurz vor der Aufnahme in der Klinik kam es zu einem Zusammenbruch, da sie dem Druck der Zwangsstörung nicht mehr standhalten konnte und befürchtete, verrückt zu werden.
Viele Betroffene leben lange mit ihrer Zwangserkrankung, ohne sich Hilfe zu suchen. Der Grund dafür ist, dass sie sich schämen, ihren Gedanken und Taten nicht im Griff zu haben. Eine Zwangsstörung läuft häufig in Episoden ab, das heißt, ihr Ausmaß verändert sich phasenhaft. Warum es zu einer Zwangserkrankung kommt ist unklar. Es werden allerdings verschiedene Perspektiven diskutiert.
Was hilft bei einer Zwangserkrankung?
Lange Zeit galten Zwangserkrankungen als schwer zu behandeln. Mittlerweile lassen sich aber mit kognitiver Verhaltenstherapie große Verbesserungen erzielen. Je nach Schwere der Erkrankung wird auch eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva in Betracht gezogen (wie bei einer Depression kann auch bei einer Zwangsstörung nämlich das Gleichgewicht an Botenstoffen im Gehirn gestört sein).
In der kognitiven Verhaltenstherapie wird zunächst gemeinsam ein individuelles Entstehungsmodell der Zwangserkrankung erarbeitet. Es werden dann mögliche Ansatzpunkte herausgefiltert. Oft geht es um den Umgang mit Emotionen und die interne Bewertung der aufdringlichen Gedanken. Bei Zwangshandlungen werden die Betroffenen mit der auslösenden Situation konfrontiert und lernen, ihre zwanghafte Reaktion zu verhindern. Die Behandlung von Zwangsgedanken ist etwas kniffeliger, da man sie nicht sehen und nicht willentlich unterdrücken kann. Hier wird vor allem an der internen Bewertung und der Akzeptanz der zwanghaften Gedanken gearbeitet.
Wenn Sie ihre eigenen Symptome oder die eines Angehörigen in diesem Artikel wiederfinden, dann möchten wir Sie hier ermutigen, sich über Hilfe und Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Sie sind nicht allein mit ihrem Leiden!
Lassen Sie ihr Leben nicht von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen beherrschen. Mit der richtigen Therapie können Sie, vielleicht inspiriert durch einen Songtext von Udo Jürgens, „aus allen Zwängen fliehen“ und ihr Leben wieder frei gestalten.
Kategorien: Zwangsstörungen